Im Sinne meiner verstorbenen Wegbegleiter erfolgt noch vor der Verbreitung meines angekündigten Beitrags über die steilen Karrierewege der an unserer Geschichte “Die Stimmen der Übriggebliebenen” beteiligten Psychiaterinnen und Psychiater, die Veröffentlichung einer gekürzten Aussage einer bisher noch nicht in Erscheinung getretenen Zeugin.
Dr. Christian Discher
[…]
Ungefähr zwei Wochen nach seinem [Christians] dortigen Aufenthalt fuhren meine Schulfreundin und ich mit dem Auto nach Ueckermünde und parkten vor dem Haus 12, einem roten Backsteingebäude, spazierten mehrere Stunden auf dem Gelände umher, immer in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen von Christian. Von der hinteren Seite des Hauses 12 öffnete sich gelegentlich eine Holztür, die zu einer Art Terrasse führte, von der aus man die Treppe abwärts direkt auf ein Rondell zusteuerte, einem vorgezeichneten Gehweg, die Fläche schätzungsweise gestaltet in der Form eines Achtels eines Fußballfeldes.
Dort erblickte ich Herrn Discher, der mit einer Trainingshose bekleidet in langsamen Trippelschritten die Treppe hinunterging und mir entgegenkam, ohne dass das Personal für jenen Moment etwas bemerkt hatte.
Über seinen Anblick, den ich wie folgt beschreibe, war ich erschrocken:
Seine Gesichtszüge waren versteinert. Im direkten Blickkontakt konnte Herr Discher seine Augen nicht offenhalten, seine Augenlider schlossen und öffneten sich im abwechselnden Rhythmus, die Pupillen waren vergrößert. Er versuchte, scheinbar unter starken Schmerzen, seinen rechten Arm zu heben, um seine Augen vor der Sonneneinstrahlung zu schützen.
Christian zitterte am gesamten Körper und aus seinem Mund lief die Spucke direkt aufs T-Shirt, ohne dass er davon Kenntnis hatte. Ich wollte ihn stützen und begleitete ihn zu einem Nebengebäude auf einen Treppenvorsprung, auf den er sich setzen sollte. Sitzend fingen seine Beine an zu wackeln. Er war unfähig zu sprechen, konnte aber alles verstehen, was ich ihm sagte. Als das Pflegpersonal auf uns zukam, ließen wir ihn zurück, was mich nicht davon abhielt, eine Woche später erneut nach Ueckermünde zu fahren.
Diesmal war es uns gelungen durch die Eingangstür die Station des roten Backsteingebäudes Haus 12 zu betreten. Eine Reinigungskraft hatte scheinbar vergessen, die Zugangstür zu verriegeln. Mit Blick auf einen engen Flur, in den kaum Licht hineinstrahlte, befand sich linker Hand ein Raucherraum mit einer Größe von circa 3 Quadratmetern, in dem Christian mit ungefähr 15 Menschen bei verschlossenen Fenstern eine Zigarette rauchte. Bei diesen Menschen handelte es sich um erwachsene Männer und Frauen mittleren und hohen Alters, von denen einige laut brüllten und ohne Unterlass auf Christian einredeten, der wie versteinert im Raum stand und Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.
Christian war nicht in der Lage, im normalen Tempo zu gehen. Mühevoll schleifte er seine Füße über den Boden, vergleichbar mit einem Roboter, vor sich hin. Den Kopf konnte er nicht bewegen. Nach direkter Ansprache wendete er seinen kompletten Oberköper mühevoll in meine Richtung. Ich sah in seinen Augen, dass er hoffnungslos und trostlos über seinen Zustand war. Christian wirkte völlig benebelt und die ganze Umgebung, dieser Raucherraum, sein, Zimmer, in das ich kurz Einblick hatte, wirkten nicht wie Örtlichkeiten, in denen Menschen gesund werden sollten, sondern grau, trist und kalt.
Das war mein letzter Besuch in Ueckermünde im Haus 12.
Ein weiteres Mal besuchte ich Christian im August 1997 in Haus 40, einem Gebäude, in dem Menschen mit körperlichen und geistigen Mehrfachbehinderungen untergebracht waren. An jenem Besuchstag wollte ich mit Christian auf dem hinter Haus 40 gelegenen Friedhof spazieren gehen, wozu Christian körperlich nicht mehr in der Lage war. Christian konnte ohne Unterstützung keine fünf Minuten mehr zu Fuß zurücklegen. Ich brachte ihn daraufhin in die zweite Etage des Hauses 40 in sein Zimmer.
Die Zeit danach
Nach seiner Entlassung nutzte ich jede Minute, die mir zur Verfügung stand, um mich um Christian zu kümmern, begleitete ihn zu Ärzten und Psychologen und kann weiterhin bezeugen, dass Herr Discher an keiner Stelle vor Ort Unterstützung bekam und von dem Klinikpersonal der Wilhelm-Külz-Straße unter Druck gesetzt wurde.
Ihm wurden Auflagen aufgezwungen, die er zu erfüllen hatte, aber keine therapeutisch wirksame Hilfe zuteil. So musste er in festgelegten Abständen seinen Psychiater aufsuchen, um seine Medikamente zu erhalten. Gesprochen oder therapiert wurde da meinem Empfinden nach wenig, sondern Druck aufgebaut und Christian in seiner ganzen Persönlichkeit abgewertet. Man sprach ihm ab, dass er das Abitur absolvieren könne und wirkte in enger Zusammenarbeit mit dem sozialpsychiatrischen Dienst vehement darauf hin, dass Christian im „Steg“, einer Einrichtung für psychisch erkrankte Menschen, Bastelarbeiten oder Ausmalbilder anfertigen sollte.
Außerdem wurden ständig Kontrollanrufe getätigt, Aufforderungsschreiben formuliert, Hausbesuche durchgeführt und so maßgeblich dafür gesorgt, dass Christian sich regelrecht tyrannisiert und überwacht fühlte. Es ging einzig und allein um Kontrolle, nicht um die Gesundung eines jungen Menschen, der nicht in eine Einrichtung, sondern in die Schule gehen wollte, um eine andere als die ihm zugewiesene Zukunftsperspektive für sich zu erreichen.
Seine immer zukunftsorientierte Einstellung, die er eben nicht in einer Ausbildung für psychisch Erkrankte, sondern in der Aufnahme eines Studiums sah, sowie sein konsequentes Ablehnen von Bastel- und Malkursen, von Dauerüberwachung seines privaten Lebens, von massiven Kontrollanrufen und Drohungen seitens der offiziellen Stellen, all das und sein Wegzug aus Neubrandenburg, hat ihn davor bewahrt, in diesem System unterzugehen.
Alle offiziellen Stellen haben versagt.
Christian war in einer Lebenssituation, in der er Hilfe und Unterstützung gebraucht hätte, nicht einen vorgezeichneten Lebensweg, der keine Änderung erlaubt, weil es die zuständigen Ärzte und Therapeuten, die ihn erstens höchstens für 45 Minuten monatlich zu Gesicht bekamen, so bestimmten und als zweite Entscheidungsgrundlage nur seine Krankheitsakten zu Rate zogen, in denen beispielsweise auch das Ergebnis eines IQ-Testes eingeheftet war, den Christian unter Medikamenteneinfluss absolvieren musste.
Ich zolle Christian meinen größten Respekt, dass er dieses Martyrium überlebt und sich bewahrt hat.
Als Zeugin werde ich zur Verfügung stehen, wenn ein Untersuchungsausschuss gebildet wird.
Bei der Größenangabe des Raucherraums handelt es sich um einen ungefähren Schätzwert. Es könnten auch 7 oder 8 Quadratmeter gewesen sein. (Hinweis hinzugefügt am: 20. Oktober 2019)