1.1 Ueckermünde und seine dunkle Vergangenheit

In Ueckermünde treffe ich eine ehemalige Mitarbeiterin, die ab 1939 in der Anstalt beschäftigt war und heute die Gräber auf dem Friedhof pflegt. Ich möchte wissen, wo die Kinder ermordet wurden. Sie sieht mich erstaunt an: »Hier hat es keine Kindertötungen gegeben«, sagt sie, »schlimm waren die Abtransporte, und es sind auch viele verhungert. Aber Kinder sind keine umgebracht worden, das höre ich zum ersten Mal.«“[1]

Ueckermünde, ein kleiner Erholungsort am Stettiner Haff, wurde in der Vergangenheit für Familien- und Seniorenfreundlichkeit ausgezeichnet.[2] Ein Städtchen, das durch die modernisierte Altstadt und der Nähe zum Wasser ein Touristenmagnet geworden ist. Als historischer Ort ist die Stadt zugleich Schauplatz mehrerer Kapitel dunkelster Geschichte.[3] Im Jahr 1875 eröffnete in Ueckermünde „die älteste  der pommerschen  »Provinzialirrenanstalten«“[4]. Während der NS-Zeit waren dort grausame Verbrechen an der Menschheit begangen worden.[5] Zur gezielten Tötung von Kindern mit Behinderungen errichteten die Nazis 1941 die „Kinderfachabteilung“.[6] Das seit 1940 bestehende Krematorium diente der Beseitigung von zahlreichen Todesopfern.[7] Auf dem heutigen Gelände der AMEOS-Klinik erinnert ein Mahnmal an die grauenhaften Verbrechen.[8] Dunkle Schatten, die trotz der idyllischen Lage der Stadt an ihr haften geblieben sind.

1.1 Die Psychiatrie in Ueckermünde: historischer Abriss

Als Menschenrechtler war Ernst Klee für seine kritische Berichterstattung und Haltung gegenüber den Psychiatrien in der ehemaligen DDR bekannt. Im Jahr 1991 klärte er die Öffentlichkeit über Missstände in diesen Einrichtungen auf. Die Psychiatrie Ueckermünde war eine von vielen Einrichtungen, die durch ihren menschenverachtenden Umgang mit Patienten traurige Berühmtheit erlangte. Dort wurden neben geistig behinderten auch psychisch erkrankte Menschen aus dem Umkreis in riesigen Schlafsälen ohne Rücksichtnahme auf das Bedürfnis nach Intimität untergebracht. Medikamentöse Zwangsbehandlungen und Wegsperren von Unangepassten in Netzbetten[9] gehörten zum psychiatrischen Alltag. Mit der Versorgung von Patienten war die Psychiatrie maßlos überfordert. Es standen lediglich 65 Betten für psychisch akut Erkrankte zur Verfügung. Die Klinik hatte den Zuständigkeitsbereich des Kreises abzudecken, in dem 530.000 Bürgerinnen und Bürger wohnten. [10]

1993 berichtete Klee in der Reportage Die Hölle von Ueckermünde-Psychiatrie im Osten über die unwürdige Unterbringung von Schutzbedürftigen mit Mehrfachbehinderungen. Obwohl Klee zur Aufdeckung dieser Menschenrechtsverletzungen beitrug, erntete er für die Art und Weise der Berichterstattung starke Kritik. Mit den bloßstellenden Filmaufnahmen verletzte er zwar Persönlichkeitsrechte, aber nur dadurch konnte der Öffentlichkeit das Ausmaß der an Menschen begangenen Misshandlungen verdeutlicht werden. Süß wirft ihm „krasse Schwarzmalerei“[11]vor und betont, dass es sich bei den im Film gezeigten Szenen, um eine „Altlast“ des bis dato bereits „reformierten psychiatrischen Krankenhaus[es] Ueckermünde“[12] handelt. Menschen mit psychischen Erkrankungen hätten zu diesem Zeitpunkt längst von eingeleiteten Reformen profitiert.[13]

Wie sehr nach 1989 versucht wurde, das an Menschen begangene Unrecht unter den Teppich zu kehren, belegt der Rapport Zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR, für dessen Bearbeitung nach der Wende überwiegend ostdeutsche „Psychiatrie-Experten“ beauftragt worden waren.[14] In diesem heißt es, dass die in den Psychiatrien der ehemaligen DDR tätigen Mitarbeiter durchaus motiviert und nicht für die Zustände und Arbeitsbedingungen verantwortlich waren.[15] Diese fragwürdige Erkenntnis ändert aber nichts an der Tatsache, dass die in der Reportage Gezeigten an der Zerstörung von Menschenleben mitgewirkt hatten.[16] Aller Kritik an Klee zum Trotz bleibt der menschenunwürdige Umgang in der benannten Psychiatrie nicht das einzige ungenügend aufgearbeitete schwarze Kapitel in der Psychiatriegeschichte. Klee malte nie schwarz, sondern dokumentierte mahnende Bilder für nachkommende Generationen.

Den ausführlichen Beitrag Über Elisa und Ueckermünde können Sie unter folgendem Link abrufen.

https://inklusionspolitik.de/wp-content/uploads/2019/10/Elisa_Layout_6.pdf

Dr. Christian Discher

[1]  Klee (1993:12).

[2]  Cf. Walther, Gerd (Bürgermeister) http://www.ueckermuende.de/index.html.

[3] Zu den Brennpunkten der deutschen Psychiatriegeschichte zur Menschenwürde: Cf. Dieckhöfer (1996).

[4] Bernhardt (1992: 2) zit. n. Klee (1993:11).

[5] Klee (1993:11) spricht von mehr als 3000 Todesopfern, wobei andere Quellen mittlerweile  von 3556 Opfern ausgehen. Zudem habe es im Rahmen der Krankenmordaktion “T4“   889 Deportationen gegeben. Tremper zit. n. http://www.links-lang.de/presse/14287.php Die Toten Kinder von Ueckermünde.(2014).

[6]  Bernhardt (1992: 85ff.) zit. n. Klee (1993:218). „Hans Hefelmann, Funktionär der »Kanzlei des Führers « und dort für die  Organisation der Kindermorde zuständig, erinnerte sich in seiner Aussage vom 9.11.1960, die Kinderfachabteilung sei in einer Anstalt »im westlichen Schenkel des Haffs, nordwestlich Stettin« gewesen (Js 148/60, GStA Franfurt/Main).“.

[7]  Cf. Bernhardt (1992: 72) zit. n. Klee (1993:11).

[8] Cf. http://www.links-lang.de/presse/14287.php.

[9]Bilder von Netzbetten: Online abrufbar https://www.flickr.com/photos/96964423@N03/14961252944/in/photostream/.

[10] Cf. Klee (1991).

[11] Süß (1999:82).

[12] Süß (1999: 82).

[13] Cf. ebd. (1999:81).

[14] Cf. Klee (1991).

[15] Cf. Zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR- Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. (1991:4).

[16] „Aus der herrschenden Diktatur der ehemaligen DDR mit dem entsprechenden Autoritätsbewußtsein dürfte auch die Verelendung der Patienten in den psychiatrischen Großkrankenhäusern ableitbar sein, die durch eine untertänige Haltung, ferner durch die rechtlich unklare Rechtssituation der Untergebrachten, letztlich aber auch u.a. auf dem Hintergrund einer allgemeinen Gleichgültigkeit ermöglicht wurde.“ Haas (1994:3).

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