Für Menschen, die abhängig in Einrichtungen untergebracht werden, ist nicht allzu viel Platz in unserer Gesellschaft, die vorgibt, für alle offen zu sein. Es sind Menschen, die niemand braucht, weil sie keinem fehlen, sie werden nicht vermisst, von wem auch? Aufgrund des demographischen Wandels zeichnet sich aktuell ab, dass in naher Zukunft zahlreiche Menschen auf Hilfe von Dritten angewiesen sein werden. Auch bei einer abhängigen Unterbringung in medizinischen Einrichtungen müssen wir uns sicher fühlen können, was nur in einer aufgeklärten Gesellschaft möglich ist. Aus diesem Grund wurde meine Petition zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in medizinischen Einrichtungen vom Bundestag zuständigkeitshalber auch an den Petitionsausschuss des Landtages Mecklenburg-Vorpommern weitergeleitet. Zahlreiche Leser meiner Autorenseite haben mich um eine Zusammenfassung meiner Tagebucherzählung Die Stimmen der Übriggebliebenen gebeten. Diesem Wunsch komme ich hiermit nach. Inwieweit in Mecklenburg-Vorpommern eine parlamentarische Beschäftigung mit den in der Petition genannten Zielsetzungen stattfinden wird, erfahren Sie am Ende des Textes.
Die Hölle von Ueckermünde
Mit der Veröffentlichung der Reportage Die Hölle von Ueckermünde – Psychiatrie im Osten sorgte Ernst Klee 1993 in der Bevölkerung für Entsetzen. Er hatte Menschen mit Mehrfachbehinderungen gefilmt, die unwürdig untergebracht und wie Tiere in dunklen Räumen “gehalten“ wurden. Damals war der mediale Aufschrei riesig. Nach dem Auf-schrei in der Zivilgesellschaft sollte alles anders werden. Ich wurde nur vier Jahre später an diesen Ort gebracht und habe die Hölle erlebt, denn hinter den verschlossenen Türen hatte sich der Umgang mit den Menschen dort kaum verändert.
Wie alles begann
Der 17. Juni 1997 sollte mein Leben verändern. Ich besuchte gerade die 11. Klasse des Sportgymnasiums, als mir per Zufallsbefund ein Tumor diagnostiziert wurde. Mit dieser Diagnose konnte ich nicht umgehen. Ich hatte Angst viel zu früh sterben zu müssen. Dieser Schock traf mich inmitten meiner Pubertät, in der mir schon seit geraumer Zeit zugleich meine erkannte Homosexualität zu schaffen machte. Als Jugendlicher fand ich in meinem Umkreis nicht den Mut, offen zu meinen Gefühlen zu stehen. Ich fing an, mich und mein Verhalten zu reflektieren und erhoffte durch das Zwiegespräch mit Gott, einen Weg der Erleichterung zu finden. Ich gehörte nie zu den Menschen, die ihre Probleme nach außen trugen. Deshalb hatte ich auch schon damals nur eine engste Verbündete, mit der ich mein Leben noch heute teile und ohne deren Unterstützung ich diese Erlebnisse ganz gewiss nicht überstanden hätte. Rückblickend betrachtet hatte ich Probleme eines Durchschnittsjugendlichen, vom Tumor einmal abgesehen. Dass mich diese direkt in die “Hölle von Ueckermünde“ führen würden, hätte ich nie für möglich gehalten.
Ärztliches Versagen und Medikamententester
Um meine Sorgen zu verarbeiten, besuchte ich regelmäßig die ortsansässige Kirche in Neubrandenburg. Dort fand ich Ruhe, fühlte mich sicher und geborgen. Auch wenn ich keinen Ansprechpartner hatte, war ich damals davon ausgegangen, dass die kirchliche Gemeinde Menschen in Krisensituationen auffangen würde. In meiner seelischen Verfassung verwies mich der Pastor an eine im Klinikum Neubrandenburg tätige Seelsorgerin, die mich nach einem persönlichen Gespräch in die Psychiatrie Neubrandenburg begleitete. Zunächst wusste ich nicht, wohin ich gebracht wurde. Ich hatte gehofft, mich an einem Ort zu befinden, an dem mit mir über meine Sorgen gesprochen werden würde. Doch darüber wollte niemand mit mir sprechen, vielmehr wurde ich, einmal in der Psychiatrie aufgenommen, sogleich eingesperrt. Die Ärzte teilten mir immer wieder mit, wie krank ich sei. Dadurch fühlte ich mich verunsichert. Ich hatte Angst, konnte nicht verstehen, was an diesem Ort mit mir passierte. Kein Arzt interessierte sich für meine Probleme, warum es mir nicht gut ging, was ich durchgemacht hatte. Im Beisein seiner Kollegen und Ehefrau leitete der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Neubrandenburg, der 1991 im Spiegel als Medikamententester enttarnt wurde, die Zwangsmaßnahmen ein. Ich wurde mehrfach ein- und weggeschlossen, medikamentös zwangsbehandelt, fixiert und mit starken Medikamenten betäubt. Dabei war ich gerade erst 17 Jahre jung und wollte doch das Abitur machen.
Ueckermünde war mehr als die Hölle
Plötzlich war ich in den Mühlen der Psychiatrie gefangen. Aus dem Teufelskreis sollte es kein Zurück mehr für mich geben. Auf der Station in Neubrandenburg entschieden die “Fachleute“, mich nach Ueckermünde einzuweisen. Von den starken Medikamenten war ich dermaßen sediert, dass ich auf dem Transport in die Akutstation für Erwachsene immer wieder eingeschlafen war. Im Krankenwagen wurde jeglicher Versuch, mich mitzuteilen, mit einem Einstich in die Vene unterbrochen. Meine Eltern konnten nichts mehr für mich tun. Sie waren nur telefonisch über meinen Abtransport in Kenntnis gesetzt worden. In Ueckermünde angekommen schob mich das Pflegepersonal in einen Wachraum. Die Sanitäter übergaben das Protokoll und verließen das Zimmer. Zuerst verspürte ich eine Erleichterung, obwohl das linke Knie stark schmerzte. Ich hatte einfach zu lange fixiert gelegen. In meinem neuen Zimmer lagen bereits die nächsten Fixiergurte für mich bereit. Ohne dass ich mich hätte gegen diese Prozeduren wehren können, wurde ich erneut grundlos festgeschnallt. Fortan sprach mich der Aufnahmepfleger mit Frau Discher an. Die Anrede spielte auf meine Homosexualität an, die ich zuvor auf der Station in Neubrandenburg verkündet hatte. In Neubrandenburg hatte ich mir in der Fixierung liegend bereits vor Angst in die Hosen gemacht, was die Pfleger in Ueckermünde nicht davon abhielt, mich mit meiner am Hintern klebenden Unterwäsche im Bett liegen zu lassen. Mir wurden dann gegen meinen Willen weitere Medikamente verabreicht. Meine Eltern waren kurz bei mir und hörten von den Ärzten, dass es die beste Therapiemöglichkeit für mich sei. Sie fühlten sich hilflos und ich war verloren.
Nach nur 24 Stunden in Ueckermünde hatte ich durch die mir verabreichten chemischen Substanzen fast vollständig meine Sprachfähigkeit verloren. Der Assistenzarzt meinte noch, dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Ich werde mich an diesen Aufenthalt nicht mehr erinnern. Und diese Rechnung hatten sie dort ohne mich aufgemacht, obwohl sie mir schon vorsorglich unterdurchschnittliche Intelligenz attestiert hatten. Ich war die ganze Zeit wach bei Verstand und musste die Demütigungen über mich ergehen lassen. Es war grauenvoll. Ich fühlte mich lebendig in meinem Körper gefangen und konnte nichts dagegen tun. Der Kontakt zur Außenwelt war vollständig abgerissen. Ich hatte nur noch mich und meine Gedanken.
Die Ärzte haben mich hirnorganisch krank werden lassen
Nach der zwangsweisen Gabe der chemischen Substanzen konnte ich kaum noch laufen. Wie bei einem Roboter bewegten sich meine Körperteile ohne mein Zutun hin und her. Mein Kopf wackelte unwillkürlich, verharrte in verschiedenen Positionen und ich zitterte ohne Unterbrechung. Dabei drehte sich meine Zunge in den Rachen und streckte sich ohne meinen Einfluss aus dem Mund. Die starken Medikamente hatten mich hirnorganisch krank werden lassen, sodass ich für Außenstehende tatsächlich “verrückt“ ausgesehen haben musste. Das war mein Alltag im roten Backsteingebäude. Im Inneren war ich aber der siebzehnjährige Gymnasiast geblieben.
Hinter den verschlossenen Türen traf ich verschiedene Menschen im Alter von 30 bis 70 Jahren. Viele erzählten mir ihre Leidensgeschichten. Ich war ohne Sprache, für die Menschen ein guter Zuhörer und konnte mich nicht dagegen wehren. Ich werde ihre Gesichter und Stimmen bis an mein Lebensende nicht vergessen. Wir wurden nicht therapiert, sondern in dem roten Backsteingebäude wie Objekte verwahrt. Es gab dunkle Kellerräume, in denen die sogenannten Therapien durchgeführt wurden. Als Schüler des Gymnasiums musste ich in der Ergotherapie Mohrrüben ausmalen und die Zeichnungen mit Gemüsesorten beschriften. Mathematikaufgaben habe ich gerechnet, z.B. 11+3=14. Häufig übernahmen die Krankenschwestern die Therapien. Nach meinem achtwöchigen Aufenthalt in Ueckermünde konnte ich anderthalb Jahre kaum sprechen. Ich war mehrfachbehindert. Dass sich die Mentalität, die ich in Ueckermünde kennengelernt hatte, in der “Nachsorge“ fortsetzen würde, musste ich nach der Entlassung mit Entsetzen feststellen.
Wie ich es zurück ins Leben geschafft habe
Nach meinen Aufenthalten in diesen Psychiatrien gestaltete sich der Weg zurück in ein normales Leben sehr schwierig. Die Sprache zu verlieren, sich nicht mehr mitteilen und richtig laufen zu können, von seiner Umwelt plötzlich als “anderer“ Mensch wahrgenommen zu werden, war unerträglich, zumal ich während der gesamten Zeit klar bei Verstand war. Meine Träume hatte ich in all der Zeit nie aufgegeben. Schon in der Fixierung liegend hatte ich mir diese im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt. Ich wollte das Abitur absolvieren, Sprachen studieren, den Führerschein ablegen und im Ausland leben. Ich redete mir selbst Mut zu und vertraute meiner inneren Stimme. “Ich schaffe es“, sagte ich in Gedanken zu mir, “egal wie andere Menschen das sehen“. Ich war nicht krank, sondern die Misshandlungen in den Einrichtungen hatten mich krankgemacht. Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder ergebe ich mich meinem Schicksal oder ich fange zu kämpfen an. Also begann ich zu kämpfen und schaffte es ins Leben zurück, weil ich nie aufgehört hatte, an mich zu glauben. Es hat zwar Jahre gedauert, bis ich wieder anschlussfähig war, aber entgegen aller medizinischen Prognosen, der mir attestierten unterdurchschnittlichen Intelligenz, habe ich meine Ziele erreicht. Noch heute leide ich unter den Folgen dieser Misshandlungen, doch ich habe einen Weg gefunden, damit umzugehen. Seit diesen Ereignissen habe ich keinen Menschen mehr getroffen, der nach derartigen medizinischen Fehlbehandlungen ein normales Leben führen konnte.
Ich werde diese Ereignisse bis zu meinem Tod nicht vergessen
Mit der Veröffentlichung meiner Tagebucherzählung wollte ich bis zum Abschluss meines Promotionsverfahrens warten, um ernst genommen zu werden. Ich habe überlebt und erzähle Jahre nach meinen Aufenthalten in den Psychiatrien in Neubrandenburg und Ueckermünde in dem Buch “Die Stimmen der Übriggebliebenen“ die Geschichte der Übriggebliebenen. Auf meinem schweren Weg zurück ins Leben lernte ich viele Menschen kennen, die zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen politischen Systemen in Neubrandenburg und Ueckermünde behandelt worden waren. Ich ließ sie zurück, weil ihre Kräfte längst erloschen waren. Elisa hat das Martyrium nicht überstanden. Antje Dreist, alias Renate in meinem Buch, kämpft noch heute vergeblich an verantwortlichen Stellen um Anerkennung des ihr widerfahrenen Unrechts. Die in Ernst Klees Reportage gezeigten Menschen, mit denen ich zum Teil in einem Gebäude untergebracht war, sind spurlos von der Bildfläche verschwunden. In diesen Kliniken und in der “Nachsorge“ ist uns Entsetzliches widerfahren. Die Gesellschaft hielt und hält die Augen fest verschlossen. Die Ärzte und das Personal von damals sind heute noch tätig. Sie haben ihren Einfluss- und Wirkungskreis in unterschiedlichen medizinischen Einrichtungen in Mecklenburg-Vorpommern erweitert.
Plädoyer für die Aufklärung
Um für eine lückenlose Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen zu kämpfen, habe ich die Petition verfasst. Als Reaktion auf die durch den Petitionsausschuss des Bundestages an die entsprechenden Landtage weitergeleitete Petition zur Aufklärung der massiven Menschenrechtsverletzungen in deutschen Psychiatrien lässt die stellvertretende Leiterin des Sekretariates des Vorsitzenden des Petitionsausschusses mit Schreiben vom 31.03.2017 mitteilen, dass vom zuständigen Ministerium eine Stellungnahme zum vorgetragenen Anliegen eingeholt wird. Über den Fortgang in der Sache werde ich berichten.
Dr. Christian Discher
Eine Antwort
ich kann Ihnen sehr nachfühlen wie es Ihnen ergangen sein muss, ich kämpfe für meinen Sohn der per Betreuer gegen seinen Willen in die Psychiatrie geschlossen eingewiesen wurde. Er ist jetzt seit 14 Tagen im Wachraum fixiert mit Zwangsmedikation und das Besuchsrecht wurde ihm entzogen. Ich schaffe es nicht mal meinen Sohn zu besuchen. Das ist unmenschlich und gleicht der Folter. Die Umgangsform des Klinikpersonals uns gegenüber ist sehr erniedrigend.
ich wünsche mir für all diese leidenden Patienten das die verantwortlichen in der Regierung die Augen aufmachen und diese Missstände, die einer waren Psychohölle gleichen, wahrnehmen.