“Fehl am Platz: Gefangen im Helfersystem Heim“ nennt Mathias Hoppe sein Buch. Wer diese Lebensgeschichte gelesen hat, wird geschockt darüber sein, wie ein hochbegabter junger Mann im Wohnheim der Lebenshilfe Mansfelder Land in Sachsen-Anhalt in seiner Entwicklung zu einem selbständigen Leben “behindert” wird. Der aufgeschlossene Mathias wuchs in einer Großfamilie auf, in der seine Bedürfnisse und Sorgen wenig Beachtung fanden. Mathias’ Schulalltag war von massiven verbalen und körperlichen Angriffen geprägt. Äußerungen wie „So etwas wie dich sollte man lebenslänglich einsperren”, „Am besten du bringst dich um” standen auf der Tagesordnung, berichtete Mathias bereits im vergangenen Jahr der Mitteldeutschen Zeitung. Auf das Mobbing in der Schule war nach Mathias’ Empfinden in seiner Jugendzeit durch Lehrkräfte nicht angemessen reagiert worden, geschweige denn wurden die Mobbenden je zur Rechenschaft gezogen. Die massiven Übergriffe führten zur Destabilisierung des sensiblen Jugendlichen und hatten die Einweisung in die Psychiatrie zur Folge. Die behandelnden Psychiater der Klinik Bernburg (Salus gGmbH) verordneten dem damals 15-Jährigen das atypische Neuroleptikum Leponex als fortwährende Dauermedikation: ein unglaublicher Skandal.
Clozapinartige Neuroleptika sind in der Fachliteratur u.a. für ihre schädigenden bis hin zu tödlichen Nebenwirkungen bekannt. Nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie führte Mathias’ Weg direkt ins Kinderheim, der Ort, an dem er noch die mittlere Reife beendete. Die traumatischen Erlebnisse der vergangenen Jahre, die verabreichten Psychopharmaka und die fehlende Unterstützung des sozialen Umfeldes hatten Mathias psychisch dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht, sodass jener Zeit der Einzug in das Wohnheim der Lebenshilfe Mansfelder Land unausweichlich war.
In Fehl am Platz: Gefangen im Helfersystem Heim beschreibt der Hochbegabte eindringlich seinen Leidensweg, wie psychisch Erkrankte und Menschen mit geistigen Entwicklungsstörungen in seiner Wohngruppe gleichermaßen ohne individualisiertes Therapieprogramm betreut und behandelt werden, sich innerhalb der Wohngruppe Hackordnungen ausprägen, in der die Menschen mit geistigen Entwicklungsstörungen den untersten Rang einnehmen, weil sie aufgrund mangelnder Ausdrucksmöglichkeiten und körperlichen Einschränkungen keine Abwehrmöglichkeiten haben. Ergreifend sind seine regelmäßig wiederkehrenden Ausführungen zum Alltag in der Werkstatt für Behinderte und die Betonung des jahrelang bestehenden, bis zur Unerträglichkeit reichenden belastenden Pfeifens eines in der Werkstatt tätigen Mitbewohners. Die Allmacht der körperlich übergriffigen und gewalttätigen Mitbewohner, die Einfältigkeit einiger Pflegender und die Reduzierung auf sein Dasein als Mensch mit Behinderung, für den nur vorgesehen ist, sein zukünftiges Leben mit „niveauloser Pille-Palle-Arbeit” zu gestalten, sind nach der Lektüre emotional kaum zu ertragen.
Während die im Wohnheim bestehende Situation regelmäßig zur psychischen Belastungsprobe wurde, weitere Psychiatrieaufenthalte folgten, nahmen auch Diskriminierungen von im Umkreis des Wohnheims lebenden Jugendlichen nicht ab, gegen deren behindertenfeindlichen Äußerungen juristisch keine Schritte eingeleitet worden waren. Aus diesem Teufelskreis sollte es kein Zurück mehr geben. Aus der Not heraus entwickelte Mathias eigene Überlebensstrategien, las psychologische Fachzeitschriften, eignete sich erforderliche Kompetenzen an und belegt, ohne in seinen Ausführungen über die Verantwortlichen anklagend zu sein, inwieweit der Überlebenswille eines Menschen reichen kann. Mit der Veröffentlichung des erschütternden Lebensberichtes erhalten die inklusionsverantwortlichen Stellen einen weiteren Einblick in die exkludierende Parallelgesellschaft, die hinter verschlossenen Türen ihren eigenen Regeln folgt, in der die Schwächeren den Kürzeren ziehen und trotz Betreuung auf sich allein gestellt bleiben.
Nach der Lektüre dieser erschütternden Geschichte darf in Frage gestellt werden, ob ein rechtlicher Betreuer bzw. das betreuende System ein Eigeninteresse daran hat, jemanden dahingehend zu verselbstständigen, dass er der Inanspruchnahme äußerer Unterstützung nicht mehr bedarf. Warum wurden keine juristischen Schritte gegen die Jugendlichen eingeleitet, deren strafbaren Beleidigungen Mathias in regelmäßigen Abständen auf der Straße ausgesetzt war? Warum wurde ihm in einem Zeitraum von acht Jahren Leponex verabreicht, im Bewusstsein der Tatsache, dass die dauerhafte Gabe dieses Medikaments massive psychische und körperliche Schäden hervorruft? Warum hat die oder der rechtliche Betreuer nicht bereits längst dafür gesorgt, dass der Betreute entsprechend seiner Beeinträchtigungen dahingehend befähigt wird durch die Inanspruchnahme von zu seinem Intellekt passenden Therapien, ein eigenständiges Leben führen zu können? Was haben die Betreuer gegen die Mobbingvorwürfe im Wohnheim unternommen und warum scheint dies, sofern etwas veranlasst wurde, nicht dazu geführt zu haben, dass diese unterbunden wurden? Warum wurde der wahre Intellekt des Betroffenen in der Einrichtung nicht erkannt? Wie viele Menschen mussten und müssen noch heute ein ähnliches Schicksal erleiden?
Was nach dem Lesen des Lebensberichtes Fehl am Platz: Gefangen im Helfersystem Heim übrig bleibt, ist das Gefühl der Ernüchterung darüber, was in manch einer Einrichtung unter dem Deckmantel der Inklusion unter “Lebenshilfe” verstanden wird. Der mittlerweile 35-Jährige hat mit der Veröffentlichung seines 457-seitigen Lebensberichtes und in der Kunst des Manga-Zeichnens einen Weg gefunden, auf sein Schicksal aufmerksam zu machen. Erfahren Sie mehr über Mathias Hoppe, besuchen Sie seine Facebook Seite und unterstützen Sie ihn auf seinen Weg zurück ins Leben. Das Buch “Fehl am Platz: Gefangen im Helfersystem Heim“ kann auf Anfrage beim Autor erworben werden.
Dr. Christian Discher
Der Junge vom Saturn: Mathias’ Tagebuch-Manga zum Thema Leben als hochbegabter und hochsensibler Mensch online:
Kainz, Daniela 2015: Mobbingopfer aus Helbra stellt eigenen Comic vor Nah am Selbstmord –
Lehmann, Peter: »Atypische« Neuroleptika: Typische Unwahrheiten für schlichte Gemüter [in gekürzter Fassung und unter dem Titel »›Atypische‹ Neuroleptika, typische Unwahrheiten« abgedruckt in: Pro Mente Sana Aktuell (Schweiz), 2003, Heft 1 (»Biologismus – Stirbt die Seele aus?«), S. 16-18