“Der heutige Tag kann nur der Beginn einer intensiveren Beschäftigung mit dem großen Sohn unserer Stadt und bedeutenden Psychiater sein und soll dazu beitragen, sein Leben und Werk dem breiten Publikum zugänglich zu machen”, zitiert das Online-Portal Neustrelitz Leben im Jahr 2006 Bürgermeister Andreas Grund.
Neustrelitz scheute keine Mühen, den damaligen Chefarzt der Psychiatrie Neubrandenburg Dr. med. Rainer Gold für das Jubiläum zu engagieren.
Anlässlich des Gedenkens an Psychiater Emil Kraepelin fand Gold an jenem Tag nur lobende Worte für dessen wissenschaftliche Errungenschaften. Beispielhaft für die Bedeutung Kraepelins für die psychiatrische Fachwelt nannte Gold seine Prägung der Klassifikation psychischer Störungen und Kraepelins Krankheitssystematik. Kraepelin war einer der eifrigsten Förderer der wissenschaftlichen Alkoholismus-Erforschung, betonte Gold.
Wie kann es sein, dass der in seinen Schriften Juden diffamierende Psychiater Emil Kraepelin eine Gedenktafel erhält, der obskure Thesen über für ihn Andersartige und Homosexuelle aufstellte, der das Auslöschen unangepasster Menschen diskutierte, dessen Schriften u.a. seinen damaligen Oberarzt Rüdin zur Mitbegründung der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene animiert hatten und auch damit den Nazis Tore und Türen für ihre Vernichtungsaktionen öffneten?
Während diese Gedenktafel in der Glambeckerstraße 14 in Neustrelitz noch heute angebracht ist, mahnt Bundesverdienstkreuzträger Dr. Peter Lehmann die überfällige öffentliche Verurteilung Kraepelins als einen der ideologischen Wegbereiter des psychiatrischen Massenmords während der Hitlerdiktatur an (Lehmann; 1992, 2010, S. 25-37; 2017).
Auf die Anfrage an Bürgermeister Andreas Grund, ob die Anbringung der Gedenktafel nicht rückgängig gemacht werden kann, wurde nicht reagiert. Das Klinikum Neubrandenburg schweigt sich ebenso zur Anfrage aus, inwieweit unter den Psychiatern vor Ort überhaupt eine kritische Auseinandersetzung mit den Werken Kraepelins stattgefunden hat. Es verwundert kaum, dass auch Laudator Gold keine differenzierte Meinung zu der historisch umstrittenen Person Kraepelin entwickelt.
1991 hatte der Spiegel über den zu DDR-Zeiten in Berlin tätigen Pharmakologen und Chefarzt Gold berichtet, der sich im Spiegel-Interview offen dazu bekannte, während seiner damaligen Tätigkeit zu Testzwecken Medikamente an Alkoholikern verabreicht zu haben. Eine medizinische Praxis, die schon damals ethisch höchst fragwürdig war und heute verboten ist.
Mit der Ehrung Kraepelins und der Wahl Golds als Laudator der Veranstaltung haben Bürgermeister Grund und das Land Mecklenburg-Vorpommern nicht nur mangelndes Feingefühl bewiesen, sondern zudem auch ein fatales politisches Signal gesetzt. Diese Art der Leugnung historischer Menschenrechtsverletzungen setzt sich leider fort, denn das Schweigen der Verantwortungsträger in der Politik als Antwort auf alle bisher veröffentlichten Aufarbeitungsbemühungen von gegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen in deutschen Psychiatrien bleibt ungebrochen.

Dr. Christian Discher

Von 1993-2010 war Dr. med. Rainer Gold als Chefarzt der Neubrandenburger Psychiatrie in der Wilhelm-Külz-Straße tätig. Im Anschluss an seine Pensionierung übte er nach belegbaren Erkenntnissen bis 2014 weitere Tätigkeiten als Psychiater aus.

Verwendete Literatur

Kraepelin, Emil 1918: “Geschlechtliche Verwirrungen und Volksvermehrung”: Münchener Medizinische Wochenschrift: Organ für Amtliche und praktische Ärzte. 65. Jahrgang.117-120.

Lehmann, Peter 2017: »Sterben unter psychiatrischer Behandlung – Gedanken zur »Euthanasie« über den gestrigen Tag hinaus«, in: Irrturm (Bremen): »Euthanasie-Verbrechen«.

Lehmann, Peter 2010: »Der chemische Knebel – Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen, 6. Auflage, Berlin / Eugene / Shrewsbury.

Lehmann, Peter 1992: »Fortgeschrittene Psychiatrie: Der J.F. Lehmanns Verlag als Wegbereiter der Sozialpsychiatrie im Faschismus«, in: Psychologie und Gesellschaftskritik, 18. Jg., Nr. 62, Heft 2 (»Euthanasie + Modernisierung 1939 bis 1945«), S. 69-79.

Online-Portal Neustrelitz Leben 2006: “Neustrelitz ehrt Emil Kraepelin – Gedenktafel am Wohnhaus der Familie enthüllt”.

Roelcke, Volker 1999: Krankheit und Kulturkritik: Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914). Campus. Frankfurt/New York.

Sheperd, M. 1995: “The two faces of Emil Kraepelin.”: The British Journal of Psychiatry 167 (2): The Royal College of Psychiatrists: 74-183.

Sheperd, M. 1995: Kraepelin and modern psychiatry: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience. Volume 245 Number 4/5:189-195.

Spiegel: 04.02.1991 “Das ist russisches Roulett”.

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