Am 27. Januar 2017 hat der Bundestag die Erinnerung an die Euthanasie-Opfer in den Mittelpunkt seiner jedes Jahr stattfindenden Gedenkstunde für die Opfer der NS-Diktatur gestellt. Das Gedenken galt den Kranken und Schutzbedürftigen – den aus der Sicht der NS-Machthaber Lebensunwerten, nutzlosen Essern, Schädlingen am gesunden Volkskörper, die es auszumerzen galt.
In zynisch-perfider Weise hatten die Organisatoren des Massenmords sich und den ihn ausführenden Mittätern eine Scheinlegitimation für ihr schändliches Tun verschafft: Sie machten sich und ihnen glaubhaft, der Tod sei eine Erlösung für die „seelenlosen Hüllen“ der Kranken! Auf diese Weise geriet die Pervertierung des ärztlichen Heilungsauftrags zum vermeintlich segensreichen Tun. So ersparten sich die Krankenmörder jegliche Gewissensnot und jedes Mitgefühl!
Die Bollwerke der Verdrängung, Verleugnung, Abwehr der Schuld hielten ewig. Kollektives und individuelles Gedächtnis sträubten sich nach 1945 vehement gegen die Bürde einer wahrheitsgetreuen Erinnerung. Die Deutschen wollten mehrheitlich vergessen und nahmen es jenen übel, die sie daran hindern wollten! Dem um Aufklärung und Aufarbeitung bemühten „Nestbeschmutzer“ drohte die gesellschaftliche Ausgrenzung, weit mehr als dem Täter einer wunschgemäß abzuschließenden Vergangenheit. Und so musste sich auch nur ein Bruchteil des am Krankenmassenmord beteiligten medizinischen Personals jemals vor Gericht verantworten – in vielen Fällen geschah dies erst nach Jahrzehnten und blieb dadurch meist folgenlos: Verjährung oder dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit verhinderte eine Verurteilung. Täterbiographien mündeten derweil knicklos in erfolgreiche und bisweilen steile Nachkriegskarrieren ein. Wer wollte daran schon rühren?!
Und so dauerte es bis 2007 (!) bis der Deutsche Bundestag die Kraft fand, sich der Kranken und Behinderten als Opfer des Dritten Reiches zu erinnern und das NS-Gesetz zur Zwangssterilisation zu ächten. Und es wurde 2011 bis öffentliche Fördergelder für die Schaffung eines Gedenk- und Informationsortes bereitgestellt wurden, der schließlich 2014 in der Tiergartenstraße 4 – dem Sitz der früheren Zentraldienststelle – in Berlin eröffnet werden konnte .
Auch die Psychiatrie hat viele Jahrzehnte gebraucht, um sich der Auseinandersetzung mit dem Teil ihrer Geschichte zu stellen, der die Verbrechen ihres Standes gegen die Menschlichkeit während der NS-Diktatur beinhaltet. Nicht vor 2009 war sie, d.h. ihre Repräsentanten und Institutionen dazu bereit.
Wie die Mehrheit der anderen Tätergruppen auch, hat die Institution Psychiatrie den Zeitpunkt der Selbstkonfrontation mit dem Thema Schuld und Versagen während des Dritten Reichs so gewählt, dass ihre Auseinandersetzung ohne physisch greifbare, d.h. juristischer Bestrafung zuführbare Täter geblieben ist – einfach weil der Zeitablauf diese Täter bereits außerhalb der Reichweite irdischer Gerichtsbarkeit gestellt hatte. Gerechtigkeit ist für Überlebende, so es sie denn vereinzelt überhaupt noch gibt, und in ihrer Nachfolge für ihre Familienangehörige somit nur noch in symbolisch vermittelter Form erfahrbar: In Form von Gedenkveranstaltungen, Lesungen, Gedenkorten etc.
Es ist nicht zu übersehen, dass diese Form des zeitversetzten Schuldbekenntnisses insbesondere der Schonung der Täter zugutekommt, während ihre Opfer den Dämonen ihrer Erinnerungen durchgängig ausgesetzt sind.
Hieraus gilt es angemessene Lehren zu ziehen im Namen von Gerechtigkeit – d.h. dem Recht der Opfer auf Leidensanerkennung und Wiedergutmachung.
Auch wenn die Geschichte – wie es heißt – sich nicht wiederholt, so war doch die Geschichte von Missachtung, Folter und Misshandlung von psychisch Kranken in psychiatrischen Einrichtungen mit dem Ende des Dritten Reichs keinesfalls zu Ende. Um nur ein besonders eklatantes Beispiel von vielen der Nachkriegszeit, Nachwendezeit und der jüngeren Vergangenheit herauszugreifen, sei die erschütternde Dokumentation „Die Hölle von Ueckermünde“ des investigativen Journalisten und Chronisten der NS-Schreckensherrschaft Ernst Klee genannt, die die schockierenden Verhältnisse in einer ostdeutschen Psychiatrie 1993 in Bild und Ton festgehalten hat.
Wie die Leser meiner Tagebucherzählung „Die Stimmen der Übriggebliebenen“ wissen, bin ich selbst ein Überlebender einer „Behandlung“ dieser Einrichtung; einer Behandlung, die so gar nichts Heilsames hatte, die vielmehr von Gewalt, Übergriffen und völliger Missachtung durch das medizinische Personal geprägt war und die in der Konsequenz eine jahrelange Traumatisierung nach sich gezogen hat. Eine Traumatisierung, die so weit zu überwinden, dass das öffentliche Sprechen darüber möglich wurde, mich viele Jahre gekostet hat.
Die Stimmen der meisten meiner damaligen Weggefährten sind verstummt: Sie leben nicht mehr oder sie sind zur gesellschaftlichen Teilhabe kaum mehr fähig.
Vor diesem Hintergrund werde ich auch in diesem Jahr auf der Leipziger Buchmesse 2018 stellvertretend für die im öffentlichen Raum nicht wahrnehmbaren Stimmen der Übriggeblieben das Wort ergreifen und die Verantwortungsübernahme der schuldig Gewordenen der Vergangenheit für ihre Taten fordern: Hier und jetzt, statt irgendwann und irgendwo!
Dr. Christian Discher
Vorschaubild von Gras-Ober, Wikipedia/Wikimedia Commons (cc-by-sa-3.0), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33193835